Daniel Martin Feige versucht es in seiner „Philosophie des Jazz“ – ein spannendes Unterfangen – nicht ganz ohne Risiko. Feige kontrastiert die Europäische Kunstmusik mit dem Jazz, mit improvisierter Musik, aber auch mit der so genannten Neuen Musik, allerdings von vornherein unter der Voraussetzung der Zugehörigkeit des Jazz zur Europäischen Kunstmusik, nicht zuletzt wegen der zahlreichen musikalischen Grenzübergänge von Neuer Musik zum Jazz und vice versa.
Kompositorisches Schaffen als solches, so erklärt Feige anfangs, ist rein musikgeschichtlich gesehen relativ jung. Insofern gehört die Komposition, also das so genannte Werk irgendwie zum Beginn des bürgerlichen Konzertbetriebes um etwa die Mitte des 19. Jahrhunderts, dem Anfang dessen, was heute als Europäische Kunstmusik bezeichnet wird.
Zeitgenössischer Jazz stellt sich per Definition in das Spannungsfeld von Komposition und Improvisation, wobei die Improvisation von ihren Schöpfern durchaus als etwas dem Werk ähnliches verstanden wird. Das Ergebnis einer „Improvisation“ ist im Feigeschen Verständnis gleichsam ein langer Fluss und wird zu Werk und erhält seinen Wert durch seine Aufführung. Da kann man ein Votum für die Improvisation als Werk im Sinne der GEMA durchhören, wie es beispielsweise in Frankreich von den Jazzmusikern gegenüber der SECAM praktiziert wird.
Die instantane Identifikation eines Jazzmusikers und einer Jazzmusikerin, demgemäß seine und ihre Persönlichkeit, ist durch sein und ihr Spiel immer zugleich öffentlich. Das ist eine manifeste Eigenschaften des Jazz, seine Einmaligkeit, die es außerhalb des Jazz nicht gibt.
Darauf folgt zugleich Feiges Definition, nämlich „dass ein Kunstwerk lebendig ist, heisst aber gerade, dass es für uns in einer anderen Weise Sinn ergibt als der, bloss noch ein Element in einer historischen Erklärung von Kunst oder etwa ein bloss interessantes Symptom einer untergegangenen Lebensform zu sein. Man kann diesen Gedanken auch anders formulieren: Das Kunstwerk sagt als dasjenige, das es ist, uns etwas über als diejenigen, die wir sind“.
Nun lenken Feiges musikimmanente Äußerungen über Jazz auf den Verdacht, dass sein Blick auf bestimmte Stilepochen mit Grenzen zur Aktualität verbunden sind. Ausgeklamert scheint das im wahrsten Sinne des Wortes Zeitgenössische im Jazz, einem Jazz, geschaffen von einer nicht nur jungen Generation, einem aktuellen Jazz geprägt von der Tagesaktualität von jungen und nicht mehr ganz so jungen Musikern.
Feigel nennt unter anderem für ihn maßgebliche Tondokumente in einem besonderen Zusammenhang, den der Jazz liefert: Bob Mintzer Bigband mit Kurt Elling mit Verweis auf den Titel „Eye Of The Hurricane“ von Herbie Hancock sowie Hancocks Album „New Standards“.
Das sind nun keineswegs mehr die im Heute auf das Morgen weisenden Aufnahmen. Dennoch: Feigel argumentiert für den Jazz als zum Hingehören als musikalische Kunst sachbezogen und neutral und damit mit einem starken Votum: Die Kraft, die im Jazz und der improvisierten Musik steckt, ausgehend und verursacht vom musizierenden Individuum, bringt unsere Musikkultur voran – und zwar immer hart mit dem musikalischen Material äußernd und damit in der Mitte dessen, was mit neuen, über das Jetzt hinausgehenden musikalischen Aussagen und Formen möglich ist.
Die Zukunft gehört den offenen Formen. Viele praktizieren es und machen es vor. „Offen schließt hier die bereits je her mit der Jazzgeschichte verbundenen grenzüberschreitenden und kulturüberquerenden Spielformen ebenso ein wie auch die Suche nach Auflösung von formalen Vorgaben durch Findung von neuen musikalischen Freiheiten und Formen.“
Vor dem digitalen Zeitalter mag mehr über Musik geschrieben worden sein als dass sie selbst gespielt wurde. Dieses Verhältnis hat sich bis heute krass umgekehrt. Allerdings tendenziell zugunsten der populären Spielarten des musikalischen Massengeschmacks.
Die traditionelle Musikkritik hat es schwer, ist eigentlich tot. Wer kann sich heute noch als Musikkritiker bezeichnen? (Schon froh ist der Musikschaffende, wenn die Lokalzeitung durch einen Praktikanten im Konzert vertreten ist. Aber da heisst es aufpassen!)
Soweit ist mehr als anzuerkennen, wenn sich Feigel der Mühe unterzieht, dem Jazz und der improvisierten Musik aus philosophischem Blickwinkel – mit Seitenblick auf Soziologie und Musikwissenschaft – eine Position zu geben.
Seine überaus aufschlussreichen und nachvollziehbaren Analysen und Argumente können Jazz und improvisierte Musik im musikalischen und im kulturpolitischen Raum nur stärken helfen.
Kurz und gut: Lesenswert, wertvoll und nützlich.
Daniel Martin Feigel: Die Philosophie des Jazz, Suhrkamp Taschenbuch, Berlin 2014