Von Mathias Bäumel – CD »The Present« von Viktor Tóths Arura Trio erschienen
Das frühere ländliche Ungarn. Wer etwa 1977 auf dem Bahnhof der Kleinstadt Kiskunhalas ankam, konnte nicht selten noch die Fiaker-artigen Pferdekutschen sehen, die auf dem Vorplatz stehend auf Passagiere ins Innere des Städtchens warteten; Taxis, alte Skodas oder Moskwitschs, begannen sich erst langsam durchzusetzen. Viele Leute holten sich damals noch ihr Mittagessen aus Selbstbedienungskneipen in tragbaren Blechgeschirr-Einsätzen nach Hause und in der Csarda am Salzteich dudelte, wenn nicht abends eine Zigeunerkapelle spielte, die Stimme Apollónia Kovács’ aus den Gaststättenlautsprechern. Als zu jener Zeit in Kiskunhalas Viktor Tóth geboren wurde, konnte keiner ahnen, dass dreißig Jahre später aus dem Knaben der vielleicht künstlerisch potenteste, anfangs auch wildeste und auf Europas Freejazz-Szene gefragteste Altsaxofonist Ungarns werden würde. Im zarten Alter von Dreißig mischte der mittlerweile in Budapest wohnende Junge im Trio mit Drummer Hamid Drake und dem ebenso jungen Bassisten Mátyás Szandai die Szene mit kompromisslosem Trio-Freejazz auf (CD »Climbing with Mountains«, BMC Records). Zwei Jahre später, im selben Trio mit Drake und Szandai, ergänzt um einige andere Musiker, erweitert Tóth sein Ausdruckspektrum mit hörbar durchstrukturierteren Kompositionen, ohne dabei an Kraft und Expressivität zu verlieren (CD »Tartim«, BMC Records). Die »Eloquenz« seiner Improvisationen beibehaltend, eroberte er sich 2010 die Phrasierungs-Welt des Bebop, dokumentiert auf der CD mit dem anzüglich-bedeutungsvollen Titel »Popping bopping« (BMC Records).
Und nun also mit seinem Arura Trio die CD »The Present« (BMC Records) . Eine klingende, symbolische Rückkehr in seine Geburtsstadt? Zumindest die Instrumentierung seines Trios – mit Miklós Lukács, einem der berühmtesten Zymbal-Spieler des Landes, und dem jungen Bassisten György Orbán – lässt den Sound früherer Restaurant-Bar-Musik wieder aufleben. Aber nur den Klang und den ruhigen, fließenden Charakter der Improvisationen. Denn gemeint ist diese Musik als eine Art Heilmittel »gegen körperliche und mentale Leiden«, wie Viktor sagt. Seine »Ballade für Bertalan Barta« verschmilzt bestes, erzählerisches, melancholisches Altsax-Spiel mit Zymbal-Improvisationen, die Jazziges mit dem geistigen Echo ungarischer, balkanischer und sogar türkischer Folklore verbinden. Und der Bass als Vermittler! Es ist eine großartige, durchaus nachdenkliche, zum Sinnieren anstiftende Musik, gewidmet einem Vorfahren Tóths, der einst im Hortobágy-Tiefland als Hirte lebte.
Dieser sowie weitere Songs auf der CD wie »Joy«, »First & Second« und das ebenfalls großartige Stück »Remember the Hatseller« versetzen mich in die Welt meiner späten Jugend, in die schummrige Gaststätte »Muzeum« am Budapester Museumsring mit ihren tränensäckigen, schildkrötenartign Kellnern um Mitternacht, ins bernsteinfarbig-glimmende Restaurant »Kispipa« auf der Budapester Akazienstraße, wo müde Ober nach getaner Arbeit zu letzten Zymbal-Klängen die Gläser für den nächsten Tag polierten – oder gar bis in die damals noch existierende »Malom Csarda« im Süden von Kiskunhalas, eine Fernfahrer-Hochburg mit zweifelhaftem Ruf, in der nachts die Goldzähne der Schnapstrinker zu klagenden Geigenmelodien im Schimmer verborgener Lampen blitzten.
All dies lässt der Jazzmusiker Tóth mit dieser CD aufklingen, und er tut dies improvisatorisch und kompositorisch auf höchstem Niveau. Ein Traum.