Neulich entdeckte ich beim Üben das Stück „Yardbird Suite“ von Charlie Parker wieder. Es hatte mir schon immer gut gefallen, aber nun beschloss ich, mich noch etwas eingehender darüber zu informieren.
Die berühmte Septett-Einspielung von 1946 für Dial Records, die kürzlich in die Grammy Hall of Fame aufgenommen wurde, beginnt mit einem kurzen Piano-Intro, das an die Einleitung des wenige Jahre zuvor entstandenen „Take the A-Train“ erinnert. Auffällig ist der fröhliche, warmherzige Swing, der ab der ersten Note präsent ist und das ganze Stück unvermindert vorantreibt.
Die A-Teile des Themas werden von allen drei Bläsern unisono gespielt, den B-Teil übernimmt Parker – mit gerade einmal 25 Jahren der Älteste der Band – alleine. Er spielt anschließend auch das erste Solo, ein Musterbeispiel melodischer Eleganz* mit virtuos umspielten, dennoch stets sanglichen Phrasen und klug gewählten Pausen. Da der Platz auf einer Plattenseite 1946 noch arg begrenzt war, bleibt es leider bei einem einzigen Chorus.
Stattdessen übernimmt nun ein junger Trompeter, der für sein Alter (19) bereits sehr „weise“ spielt – abgeklärt, lyrisch, ohne unnötige Schnörkel. Sein Name: Miles Davis.
Es folgt ein interessanter Kniff im Arrangement: der Bandleader hatte über vier Formteile (AABA) soliert; die beiden anderen Bläser bekommen nun jeweils drei, wobei die Soli ineinander verschachelt sind – Miles Davis spielt zwei A-Teile, der Tenorsaxofonist Lucky Thompson (auch erst 21 Jahre alt) übernimmt den B-Teil, dann beschließt erneut Davis mit dem letzten A-Teil den Chorus. Die folgenden beiden A-Teile gehören Thompson, der ausgefeilte, harmonisch avancierte Achtellinien beisteuert und in seinem Sound mitunter an Coleman Hawkins erinnert.
Zu guter Letzt kommt die Rhythmusgruppe, zumindest in Teilen, auch noch zu Wort. So darf der – bisher noch überhaupt nicht in Erscheinung getretene – Gitarrist Arvin Garrison (23) über B- und A-Teil solieren, bevor Pianist Dodo Marmarosa (20) im letzten halben Chorus acht Takte B-Teil füllen darf und für den letzten A-Teil wieder das Thema erklingt. Nach exakt drei Minuten ist der Spaß (zwangsweise, s.o.) vorbei. Bassist Vic McMillan und Schlagzeuger Roy Porter (22) bleibt nur die Begleiterrolle, die sie aber hervorragend ausfüllen.
Ein Septett ist eine stattlich große Besetzung, die viele Möglichkeiten für ausgefeilte Arrangements bieten würde. Diese werden jedoch kaum ausgenutzt: Die Melodie wird stets von den Bläsern und stets unisono gespielt; die einzige Stelle, an der die Tatsache, dass man drei Bläser zur Verfügung hat, für die Darstellung eines mehrstimmigen Voicings genutzt wird, ist der Schlussakkord. Der Gitarrist, der sich im Begleiten der Solisten gut mit dem Pianisten hätte abwechseln können, spielt bis zu seinem 16-taktigen Solo keinen einzigen Ton.
Wie gut aber, dass all diese Möglichkeiten nicht genutzt wurden. Denn das Ergebnis, das eher die spontane Leichtigkeit einer kurzfristig organisierten Jam-Session ausstrahlt, ist großartig und wirkt auch heute – 68 Jahre später – noch ungemein frisch.
Dieses Stück, und wie es gespielt ist, strahlt für mich sehr viel Liebe aus. Liebe zur Musik, klar, aber auch Liebe für die Menschen, die sie hören und sich zu ihr bewegen möchten. Dem Bebop wird häufig vorgeworfen, dass er maßgeblich für die Wandlung des Jazz von einer Tanz- und Unterhaltungsmusik hin zu einer abstrakteren, dadurch vermeintlich für weniger Menschen zugänglichen Kunstform gesorgt habe. Zwar mag es stimmen, dass das Tanzen zu den teils halsbrecherischen Tempi schwerer fiel, aber die Zuhörer zu erfreuen, ihnen gute Unterhaltung zu bieten (und das auch durchaus im Sinn zu haben), das sollte immer noch geklappt haben. Ich habe es jedenfalls nicht geschafft, beim Hören der „Yardbird Suite“ die Füße still zu halten und meinen Kopf am Nicken zu hindern.
* zwischen 0:54 und 0:55 zitiert Parker ein melodisches Motiv aus einem anderen Stück, dessen Namen mir partout nicht einfallen will. Kann jemand Abhilfe schaffen, bitte?