Improvisation über Improvisation #8

Jerome Kerns „All the things you are“ ist ein Musikstück, das einem im Jazzkontext häufig begegnet – ein sogenannter Standard. Wie so viele Stücke aus dem Great American Songbook wurde es ursprünglich für ein Broadway-Musical („Very warm for May“, 1939) geschrieben. Das Musical war schnell vergessen, der Song aber erwies sich als Hit: die „Coverversionen“ von Tommy Dorsey (1939) und Frank Sinatra (1945) schafften es beide auf Platz eins der Hitparade (… wie ich dieses Wort liebe!).

Die frühen Vokalversionen – wie jene von Helen Forrest (1939), Jo Stafford (1946) oder Tony Martin (1946) – untermalten mit opulenter Orchestrierung Oscar Hammersteins hochromantischen Text und verdeutlichten die Tanzmusikfunktion des Jazz in der Ära der Swing-Big-Bands.
Recht schnell fand das Stück aber auch in Bebop-Kreisen Anklang, wo es als reine Instrumentalmusik für kleinere Besetzung abstrahiert wurde. Dizzy Gillespie stellte „All the things“ 1945 erstmals ein Intro voran, das auf den ersten Blick wenig mit dem eigentlichen Stück zu tun hat und eine neue, geheimnisvollere Komponente hinzufügt.

Dieses Intro tauchte bereits wenig später – etwa bei Red Rodney (1946) und Charlie Parker (1947) – so selbstverständlich integriert auf, als hätte es schon immer dazugehört. Mehr noch: vom ursprünglichen Stück waren nur die Akkordfolge und einige melodische Zieltöne übrig geblieben; diese dienten nun als Grundlage für neue, improvisierte Melodien.

Während der Text eine Deutung des Stückes als balladeskes Liebeslied nahelegt, ebnete die Abstraktion als reine Instrumentalmusik den Weg für die Öffnung aller möglichen Parameter. Die Versionen von Thelonious Monk (1948), Dave Brubeck (1953) oder Lennie Tristano (1955) und später Pat Metheny (1989) und Keith Jarrett (1990) korrigierten das Tempo teilweise deutlich nach oben; selbst Ausflüge in den Bossa Nova (Baden Powell 1967) oder nach Motown (Michael Jackson 1973) überstand das Stück unbeschadet.
Der romantischen Opulenz der frühen Vokalversionen kamen dagegen, wenig verwunderlich, die Tastenvirtuosen Erroll Garner (1949) und Art Tatum (1953) noch am nächsten.

Auch das nachträglich hinzugefügte Intro begann, ein Eigenleben zu entwickeln: blieb es bei Stan Getz / Chet Baker (1954) und Sonny Rollins (1963) noch recht nah am Original, wurde es von Bill Evans (1963) merklich verfremdet, ohne jedoch seine mystische Qualität zu verlieren.
Bei Brad Mehldau (1999) schließlich funktioniert das Intro nicht mehr als solches, sondern als Vamp für ein Schlagzeugsolo gegen Ende des Stückes. Auch sonst hat sich einiges geändert: Tempo, Ton- und Taktart, die Akkordfolge des Intros…

Dennoch bleibt das ursprüngliche Thema bei fast allen, das Intro zumindest bei vielen der genannten Beispiele erhalten. Der kompositorische Rahmen war und ist also nach wie vor inspirierend genug, um Jazzmusikern als Improvisationsgrundlage zu dienen. Man mag zu der „Repertoirepflege“ durch das Spielen von Standards stehen, wie man möchte, aber wenn ein Stück über 75 Jahre so präsent bleibt und mit so viel unterschiedlichem „Leben“ gefüllt werden kann, dann spricht das eindeutig für die Qualität des Stückes. „All the things you are“ eben.

Allen Kritikern, die heutzutage die Nase rümpfen, wenn Jazzmusiker Pop-Stücke als Grundlage für ihre Improvisation verwenden, sei noch einmal verdeutlicht, dass auch „All the things you are“ ein Pop-Stück seiner Zeit war – ein Superhit sogar, der es in mehreren Versionen bis an die Spitze der … na? … Hitparade geschafft hat.

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