Das Thema Revolution hat mich seit dem letzten Blog nicht losgelassen. Genauer gesagt wurde ich erneut darauf gestoßen, als ich feststellte, dass Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ mich auch beim hundertsten Hören mehr packt und erschüttert als jedes andere Musikstück. Ein Blick auf die Geschichte des Werkes zeigt, dass es auch anderen so ging: massive Zuschauerproteste und Handgreiflichkeiten während der Uraufführung; Hohn und Unverständnis seitens der Kritiker; Orchester, die sich weigerten, diese Musik zu spielen. Der „Sacre“ erzwingt beim Ausführenden wie beim Rezipienten eine Reaktion – egal wie diese ausfällt. Spurlos vorüber zieht er nie. Bei Gil Scott-Heron heißt das dann: „You will not be able to stay home, brother“.
Die Musik des „Sacre“ ist von einer so urtümlichen Wucht, aus ihr spricht die zarteste Schönheit ebenso wie die brachialste Zerstörungskraft. Wunderschöne Melodien werden fragmentiert und im gezielten Chaos neu zusammengesetzt. Nichts ist mehr, wie es vorher war. Was sich in der Natur jedes Jahr aufs Neue vollzieht, taucht bei den Menschen zwar seltener, aber doch ebenfalls immer wieder auf – meist mit gravierenden Folgen, nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Natur, die sie umgibt.
Interessanterweise bezeichnete der Begriff revolutio ursprünglich etwas Wieder- oder Rückkehrendes, eine gleichbleibende, gesetzmäßig und kreisförmig verlaufende Bewegung. Die Reduktion auf ein (mehr oder weniger) punktuelles Ereignis, das einen wirklichen Neuanfang verspricht, hat sich erst viel später durchgesetzt.
Die Uraufführung des „Sacre“ fand 1913 statt – ein Jahr vor Beginn des ersten Weltkriegs.
Von Igor Strawinsky stammt auch das folgende Zitat: „Komposition ist selektive Improvisation“. Was mich zu der Frage bringt, ob das, was ich hier versuche, überhaupt möglich ist – Improvisationen über Improvisation. Schließlich selektiere ich ja, ich schreibe etwas dauerhaft fest (in Zeiten des Internets also auf ewig… oder zumindest so lange, bis der Strom alle ist). Komponiere ich dann nicht eher? Geht es letztlich mehr um den Zustand, in dem man „improvisiert“ – also bewusst oder un(ter)bewusst?
Vielleicht hilft die etymologische Betrachtung: das Wort „Komposition“ kommt von compositio (lat.: Zusammenstellung, Zusammensetzung), Improvisation dagegen von improvviso (ital.: unvorhergesehen, unerwartet). Strawinsky definiert die Schöpfung seines Werkes also als Zusammenstellung von Unerwartetem. Im „Sacre“ ist ihm dies meisterhaft gelungen.
Zu guter Letzt noch ein Hinweis: Improvisation ist auch deshalb so schön, weil ihre Schönheit vergänglich ist. Deshalb kann ich nur jeden geneigten Zuhörer ermutigen, Jazz am besten live im Konzert, im „Moment“ seiner Entstehung zu erleben. Es lohnt sich in jedem Fall – egal, welche Reaktion das Gehörte in einem auslöst!
Wenn ich meine Sinne nicht durch das Hantieren mit dem Smartphone betäube, weil ich aus Angst, etwas zu verpassen, den Moment festhalten will, wird mich die Musik zu einer Reaktion zwingen. Ob Begeisterung, Rührung, Ablehnung oder Langeweile (nein, Jazzkonzerte sind nicht immer gut!), spielt keine Rolle – ich bin bei mir und erlebe meine emotionale Reaktion. Durch die Musik spüre ich mich selber. Ist das nicht der Zustand, den viele von uns, gefangen im Diktat der Produktionssteigerung, derzeit vermissen?