Einmal in meinem Leben will ich einen Literaturnobelpreisträger vor der Auszeichnung kennen. Dieses Jahr fällt die Wahl auf Alice Munro. Das bedeutet einen Umbruch, weil Munro Kurzgeschichten schreibt und Kanadierin ist. Aber was bedeutet es sonst?
„Wieso gibt es den Literaturnobelpreis?“ fragte ich meinen Vater einmal als kleiner Junge. „Weil Bücher sehr wichtig sein können“ sagte er. „Vor Frankenstein zum Beispiel wusste niemand, dass Wissenschaft auch manchmal etwas Schlimmes ist.“ Diese Erklärung, so krude sie auch sein mag, trifft den Kern der Sache ganz gut. Freilich, Mary Shelley war nie für einen Literaturnobelpreis nominiert, doch wird bei der Vergabe explizit nicht die literarische Kraft (also neue Erzählform) oder Bedeutung (also Menge der Anhänger) ausgezeichnet, sondern eine Geisteshaltung. Alfred Nobels Testament gibt vor, den Idealismus eines Werkes als Maßstab zu verwenden. Es geht also um Personen, die Kritik üben. Am Krieg, am Fanatismus, Kapitalismus oder Sexismus. Personen, die etwas riskieren mussten für ihre Texte. Und überhaupt: Personen. Kommt der Autor aus Afrika? Aus dem mittleren Osten? Ist er ein Moslem? Wenn ja: Wie steht er zum Antiamerikanismus? Diese Art Fragen spielen bei der Vergabe eine Rolle. Vor allem, weil im letzten Jahrzehnt – so schien es zumindest – bewusst nicht typisch europäische Literaten ausgezeichnet wurden. Die beiden einzigen chinesischen Literaturnobelpreisträger zum Beispiel erhielten die Auszeichnung in den Jahren 2000 und 2012.
Der Nobelpreis für Literatur lässt sich – im Gegensatz zu den naturwissenschaftlichen Pendants aber genau wie der für Frieden – eher als Aufforderung verstehen, weniger als Siegerprämie. Wenn US-Präsident Obama den Friedensnobelpreis kurz nach seinem Amtsantritt bekommt oder Klimakämpfer Al Gore oder die EU-Mitglieder dann nicht, weil sie die Welt schon gerettet haben sondern, um sich weiter anzustrengen. Und vielleicht als notwendige Unterstützung im Kampf gegen Windmühlen. Ähnlich soll der Literaturnobelpreis Schriftsteller daran erinnern, dass Mut sich immer lohnt und der Leserschaft zeigen, in was man seine Nase als nächstes zu stecken hat. Das erklärt, wieso Winston Churchill Träger dieses Preises ist und der – ebenfalls oft und als Musiker einzig nominierte – Bob Dylan nicht. Und zumindest das mit der Leserschaft scheint zu funktionieren, lässt sich das Publikum der Weltliteratur erschreckend einfach manipulieren. Schon am Tag nach der Bekanntgabe flankieren Elfriede Jelineck– oder Orhan Pamuk-Pyramiden die Buchhandlungen. Auch meine Mutter las immer die Literaturnobelpreisträger, wenn die Tage länger wurden, allein aus Prinzip. Und viele Leser werden es ihr gleich tun, vielleicht nicht, um etwas für den Bus zu Arbeit zu haben, auf dem sich die Augen ausruhen können, vielleicht nicht, weil ihnen die Texte wirklich gefallen (Darum geht es ja auch nicht! Kunst muss weh tun!) aber als Futter für den nächsten Smalltalk. Doris Lessing? Kenne ich. Ihr Bücher sind von beeindruckender Klarheit. Der Stil ist kraftvoll und doch zart, warmherzig und doch präzise, hat Vokale und doch auch Konsonanten.
Ist man der beste Schrifsteller der Welt, bekommt man den Nobelpreis. Diese einfach Regel scheint nicht ganz zu stimmen. Auch wenn es sich retrospektiv so anfühlt. „Herrmann Hesse? Ernest Hemingway? Albert Camus? Samuel Beckett? Natürlich haben die den Literaturnobelpreis!“ Denkt man. Aber in den letzten dreißig Jahren sind bekannte Schriftsteller längst die Ausnahme. José Saramago zum Beispiel, der mit Stadt der Blinden einen Weltbestseller schrieb. Oder auch Günther Grass.
„When the going gets weird, the weird turn pro“ heißt es bei dem (ebenfalls nicht ausgezeichneten) Hunther S. Thompson. Und in diesem Fall: Dass Erfolg auch eine Hürde sein kann auf dem Weg zur höchsten Ehrung. In den letzten Jahren machten die Außenseiter das Rennen. Es scheint absurd, dass Salman Rushdie, Philipp Roth oder Haruki Murakami noch nicht in diese Liste der bedeutendsten Schriftsteller aufgenommen wurden, wurden in der Vergangenheit – aller Eigenheiten dieses Preises zum Trotz – zumindest die allergrößten literarischen Werke wie die Buddenbrooks und die Blechtrommel nicht ausgelassen. Sollte es bald nicht doch noch Thomas Pynchon wegen „Die Enden der Parabel“ treffen oder Jonathan Franzen wegen „Die Korrekturen“? Besser wär’s. Denn ein Komitee, das langfristig am Zeitgeist vorbei auszeichnet, macht sich lächerlich. „Die Akademie in Stockholm sollte sich was schämen, dass sie Philipp Roth noch nicht ausgezeichnet hat“ sagte auch Reich-Ranicki vor einem Jahr in einem FOCUS-Interview. Und gerade wenn der Literaturnobelpreis noch die Kraft hat, Nischenautoren zu Ruhm zu verhelfen (der leider oft so spät kommt, dass man ihn buchstäblich mit ins Grab nehmen kann), sollte man diese zum Guten nutzen. Und nicht, um auf Teufel-Komm-Raus Bücher zu empfehlen, die möglichst schwer verständlich, unbekannt und ausgeflippt sind.
Wenigstens insofern bedeutet die Auszeichnung für eine Kurzgeschichtenautorin ein großes Entgegenkommen an die Leser. Und auch sonst ist die Wahl einer Autorin, die auf englisch schreibt und in einfachen Sätzen, sicher nicht das schlechteste. Natürlich ist es auch ein großer Sieg für Kanada und die Kurzgeschichte im Allgemeinen. (Und ein kleiner Dorn im Auge der US-amerikanischen Romanciers?) „Was ist schon so ein oller Preis?“ sagen manche. „Alfred Hitchcock, Stanley Kubrick oder Lars von Trier haben auch nie den Regie-Oscar bekommen.“ Ob es ,gut’ ist, dass millionenschwere Autoren wie Roth oder Murakami auch dieses Jahr leer ausgingen, darüber darf man sich trotzdem streiten.