The Blue Note Years

Keeper of the Flame: Michael Cuscuna

Autor:
Hans-Jürgen Schaal

Aktuelle CDs:
The Blue Note Years. Limitierte Box mit 7 Doppel-CDs (Aufnahmen von 1939 bis 1998) und einem Foto-Heft (Blue Note/EMI)

Als Alfred Lion, der gebürtige Berliner, 1966 sein renommiertes Label an eine größere Firma verkaufte, schien das Ende der Blue-Note-Ära gekommen. Denn für Lions Partner und Jugendfreund Frank Wolff (bis dahin vor allem Blue Notes Fotograf und Zahlmeister) war die schwierige Aufgabe als "angestellter Produzent" von Liberty nicht zu lösen. Erst recht nach Wolffs Tod 1971 wurde der Name Blue Note zum Spielball rein kommerzieller Interessen. Der Konzern United Artists engagierte freie Produzenten und erwartete von ihnen in erster Linie eines: Verkaufserfolge.

Einer von denen, die in den 70er Jahren produzierend für Blue Note tätig wurden, war Michael Cuscuna, Jahrgang 1948, vormals DJ, Jazzkritiker und Produzent bei Atlantic. Cuscuna, ein großer Fan der historischen Blue-Note-Philosophie, hatte schon jahrelang versucht, an die Schätze des Labels heranzukommen. Musiker hatten ihm so oft von nicht veröffentlichten Aufnahmen erzählt, daß er begann, ihre Hinweise in einem Notizbuch zu sammeln. Als Blue-Note-Mitarbeiter Charlie Lourie diese Notizen sah, verschaffte er Cuscuna 1975 endlich den Zugang zum Allerheiligsten. Cuscuna forschte, archivierte und entdeckte wahrhaft Unerhörtes. Mit den 10 Doppel-LPs der "Blue Note Reissue Series" begann seine Tätigkeit als Konservator von Alfred Lions Lebenswerk.

An dieser großen Aufgabe hat Cuscuna bis zum heutigen Tag festgehalten. Als Blue Note 1981 eingestellt wurde, gründete er zusammen mit Charlie Lourie das Label "Mosaic" und führte dort (in Lizenz) die Blue-Note-Dokumentation weiter. Die erste LP-Box von Mosaic dokumentierte die Blue-Note-Aufnahmen von Thelonious Monk - erstmals komplett und in chronologischer Reihenfolge. Darunter waren 30 Minuten bis dahin unveröffentlichten Materials - einschließlich eines Alternate Takes von "Well You Needn’t", den Cuscuna für ein Meisterwerk hält.

"In der Regel aber", sagt er heute, "haben Alfred und Frank immer die besten Takes und die besten Sessions veröffentlicht." Zwei wichtige Ausnahmen gab es jedoch: Grant Green und Lee Morgan. Bei Green hatte die Kombination Gitarre/Hammondorgel Vorrang, weshalb mehrere von Greens Sessions mit Pianisten unveröffentlicht blieben, obwohl sie mindestens ebenso gut waren. Auch in Lee Morgans Fall entschied man sich für das Populäre. Cuscuna: "Lee Morgan hatte 1964 sein Comeback auf Blue Note mit dem Album ‘The Sidewinder’. Das Titelstück besaß diesen modischen ‘funky’ Touch und wurde ein unerwartet großer Hit. Der Trompeter nahm danach die Platten ‘Search For A New Land’ und ‘Tom Cat’ auf. Aber weil alle Vertriebe einen Nachfolge-Hit wollten, wurde als nächstes das Album ‘The Rumproller’ veröffentlicht. ‘Search’ erschien erst vier Jahre später, ‘Tom Cat’ wurde sogar erst von mir veröffentlicht. 1967 machte Lee eine seiner allerbesten Sessions, aber auch die hatte keine hitverdächtige Funk-Nummer. Ich habe sie 1976 unter dem Titel ‘The Procrastinator’ herausgebracht."

1982 meldete Japan Interesse an Blue-Note-Reissues an, und wieder war Michael Cuscuna als bester Kenner des Archivs zur Stelle. Als EMI 1984 das renommierte Jazz-Label neu startete, wurde Cuscuna logischerweise in den Mitarbeiter-Stab berufen. Seine Reissue-Politik machte das wiedergeborene Blue-Note-Label nicht nur zum Mainstream-Ideal, sondern auch zum Renner der Acid-Jazz- und DJ-Kultur. Bis zu 100 Reissue-CDs pro Jahr betreut Cuscuna heute. Bei Neuaufnahmen bemüht er sich (beratend und produzierend) um eine Qualität, die des Namens Blue Note würdig ist.

Michael Cuscuna vor allem ist es zu verdanken, daß Blue Note heute auf eine (fast) kontinuierliche Geschichte von 60 Jahren zurückblicken kann - eindrucksvoll dokumentiert durch die zum Jubiläum erschienene Liebhaber-Box "The Blue Note Years". Auf sieben Doppel-CDs werden die wichtigsten Abschnitte der Label-Historie in exemplarischen Aufnahmen nachvollziehbar: die Anfänge mit Boogie, Swing und Bebop, die Erfindung des Hardbop, die Hammond-Mode, die Avantgarde-Jahre. Die sechste Doppel-CD ist der Post-Lion-Ära gewidmet, und hier sind auch die drei erfolgreichsten Interpreten der neueren Blue-Note-Geschichte vertreten: Cassandra Wilson, Stanley Jordan und US 3.