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Ausgabe September 1998

THE BIG SOUND

Tenor-Titanen

Aktuelle Wiederveröffentlichungen – kritisch gesichtet

Autor: Matyas Kiss

Diskographische Hinweise:

Gato Barbieri: The Complete Flying Dutchman Recordings (1969-1973).RCA Victor/BMG 74231545552 (6 CDs und 1 Maxi-CD mit einem Bonustitel von Oliver Nelson feat. Gato Barbieri)

Don Byas/Bud Powell: A Tribute To Cannonball. Columbia/Sony CK 65186

Booker Ervin: The Space Book. Prestige/zyx-music OJCCD 896-2

Art Farmer – Benny Golson Jazztet: Here And Now. Verve/Polygram 558052-2

Stan Getz & The Kenny Clarke – Francy Boland Big Band: Change Of Scenes. Verve/Polygram 557 095-2

Coleman Hawkins 1 Johnny Hodges: The Vogue Recordings. BMG 7423 155 971 2

lllinois Jacquet: The Kid And The Brute. Verve/Polygram 557 096-2

Bobby Jaspar/Henri Renaud. BMG 7423 140 937 2

Bobby Jaspar & His Modern Jazz. BMG 7423 155 951 2

Houston Person: Legends Of Acid Jazz. Prestige/zyx-music PRCD-241 79-2

Lucky Thompson: The Complete Vogue Recordings Vol. 1. BMG 7423 140 934 2

Lucky Thompson: The Complete Vogue Recordings Vol. 2. BMG 7423 155 950 2

Stanley Turrentine: Salt Song. CTI/Sony ZK 65126

 

Literaturhinweis:

Die Juliausgabe der Schweizer Zeitschrift "du" ist ganz dem Tenorsaxophon gewidmet und kostet 20 Mark.

Der belgische Bandleader und Arrangeur Francy Boland zögerte nicht lange, als ihm Stan Getz ein gemeinsames Projekt vorschlug: Das 1971 aufgenommene "Change Of Scenes", die letzte offizielle Produktion der ruhmreichen Clarke-BolandBig-Band, ist zugleich eine tour de force durch kompositorisches Neuland, der sich Getz trotz massiven bläserischen Kräfteaufgebots und konkurrierender Solisten mehr als nur gewachsen zeigt. Die teure und – wie die ganze "Elite-Edition" von Verve – ärgerlicherweise limitierte CD erfordert wiederholtes Hören, belohnt den Mehraufwand jedoch reichlich.

"Neue Klänge aus Belgien" versprach 1953 auch ein vom Quintett des Pianisten Henri Renaud unterstützter, noch etwas unausgereifter Bobby Jaspar: Deutlich bekannte er sich zur Lester-Linie und improvisierte in einer Kombination aus Getz-Ton und Warne-Marsh-Phrasierung. Aus dem gleichen Jahr stammt ein frühes Konzeptalbum mit acht bestechenden Kompositionen von Gigi Gryce, der zu jener Zeit auch Getz belieferte. Die CD mit Renaud beschließt eine rare EP-Single, auf der eine Frontline aus fünf Bläsern Renaud-Kompositionen vorstellt. (Die Besetzungsangaben und Aufnahmedaten in der Vogue-Serie sind leider unzuverlässig.) "Bobby Jaspar & His Modern Jazz" in erweiterter, vom Miles-Davis-Nonett beeinflußter Besetzung rückt den kennenswerten Cool-Adepten dann schon konturierter ins Rampenlicht.

Der "Vater" des Tenorsaxophons, Coleman Hawkins, weilte nach dem Krieg wiederholt in Europa und nahm 1949 in Paris ganze sechs Drei-Minuten-Titel auf, die aber zu seinen schönsten gehören – allen voran die göttliche "Sophisticated Lady" (Den Rest der üppigen Spiel-dauer bestreitet Meisteraltist Johnny Hodges in ebenfalls grandioser Form). Ein weiterer früher Wegbegleiter der Bebopper war der verschollene Lucky Thompson der stilistisch entsprechend am Übergang zwischen Swing und Moderne steht. Auf zwei CDs sind Aufnahmen von 1956 verteilt, die um drei für ihre Zeit hochaktuelle Livetitel von 1960 ergänzt werden, auf denen er sehr kompetent Sopransaxophon bläst. Er wird dabei vom großartigen Bassisten Peter Trunk und dem jungen Daniel Humair begleitet. Die älteren Sessions teilen sich in Standards und in Bopmanier aus bekannten Harmonieprogressionen entwickelte Eigenkompositionen, bei denen ihm die All Stars (ein Quintett beziehungsweise Oktett) des Schlagzeugers Gèrard "Dave" Pochonet das Backing liefern. Als Balladenexeget (zum Beispiel des ellingtonesken "A Sunkissed Rose") kann sich Thompson mit den Größten seiner Zeit messen, und als Zweitsolist bringt sich mit Martial Solal der vielleicht wendigste Jazzpianist der Alten Welt in Erinnerung.

Don Byas hatte schon vor Thompson eine stilistische Zwitterstellung inne, in der er sich dennoch lebenslang hörbar wohlfühlte. Eine so gut wie vergessene Aufnahmesitzung, die Cannonball Adderley für Columbia organisierte, führte ihn 1961 mit dem blendend aufgelegten Bud Powell Trio (mit Pierre Michelot und Kenny Clarke) zusammen. Gelegentlich durch Idrees Sulieman zum Quintett verstärkt, manövrierten sich die vier "Expatriates" mit so großer Spielfreude durch die Changes, als wäre der Bebop gerade erst erfunden worden, und nicht schon während des Krieges. Das allerdings erst fünf Jahre junge "I Remember Clifford" bläst Byas mit gro-ßem Ton im individuell abgewandelten Hawkins-Stil. Dessen Komponist, der Byas-Fan Benny Golson, ist hier mit dem vorletzten Album (1962) seines legendären "Jazztets" vertreten. Auf "Here And Now" stellte die Combo um Golson und Art Farmer mit Harold Mabern am Piano und dem vielversprechenden Posaunisten Grachan Moncur III eine neue Besetzung vor. Farmer spielte erstmals das später favorisierte Flügelhorn, und die drei Bläser gelangen auf einem ausgewogenen Programm-Mix aus Fremdmaterial und Originalen der Bandmitglieder zu spannenden Voicings (Farmers "Rue Prevail"). Der wunderbare Ben Webster kommt auf "The Kid And The Brute" viel zu kurz, gastierte auf diesem Date des ersten "Texas Tenors" Illinois Jacquet allerdings auch nur. Die Band, die er mit seinem Bruder, dem Trompeter Russell Jacquet, bis 1954 leitete, gab dem Affen mit hupendem, jukebox-orientiertem Material oder modischen Mambo-Verschnitten ordentlich Zucker und durchsegelte mit der einen oder anderen schmachtenden Ballade ("September Song") ebensogern ruhigere Gewässer: Auch eine Möglichkeit, wirtschaftlich zu überleben in einer Zeit, als vielen Hörern Swing zu altertümlich und Bop zu anstrengend vorkam, der Soul Jazz aber noch nicht erfunden war.

Zehn Jahre später hatte sich die Jazzlandschaft bis zur Unkenntlichkeit verwandelt: Einer derjenigen, die gleichwohl den Über-blick behielten, war der frühverstorbene (echte) Texaner Booker Ervin. Sekundiert von dem ebenfalls durch die Mingus-Schule gegangenen fröhlichen Eklektiker Jaki Byard, suchte er auf "The Space Book" mit je zwei lang ausgespielten Balladen und eigenen Themen kontrollierte Freiheit im Rollins’schen Sinne zu verwirklichen. Dem Quartett (das Richard Davis und Alan Dawson kongenial ergänzten) gelang auf Anhieb ein Meisterwerk, welches das Fehlen einer Gesamtausgabe aller "Bücher" Ervins in schmerzliche Erinnerung ruft.

Vor ein Problem sah sich Stanley Turrentine durch den Niedergang von Blue Note gestellt. Trotz der süffigen, von Deodato arrangierten Streicherklänge gelang es ihm auf dem Popjazzprogramm "Salt Song" von 1971 (es war nach "Sugar" seine zweite CTI-Aufnahme) aber noch, seine Individualität zu wahren. Allerdings waren auch die anderen Spieler erstklassig motiviert und schufen eine quicklebendig agierende Umgebung, in der sich der seelenvolle Ton des Solisten optimal entfalten konnte. Mehr auf ein schwarzes Soulund Funk-Publikum als auf die weißen Popcharts schielte Houston Person mit seinen Alben der Siebziger. Zwei der besseren, "Person To Person!" und Houston Express subsumiert eine CD unter das schon etwas verblaßte "Acid Jazz"-Etikett. Die tanzbare, bisweilen harmonisch allzu simple Musik mit den muskulösen Fender-Baßlinien macht jedenfalls noch immer Spaß.

Anders als bei seinen von Blues und Gospel geradezu imprägnierten Kollegen Turrentine und Person stellt die Perkussion für den ebenfalls 1934 geborenen Argentinier Gato Barbieri keine verkaufsfördernde Zutat dar – sie repräsentiert das Bindeglied zu den Klängen und Rhythmen seiner Heimat. Die hatte er zunächst Richtung Europa verlassen, um an der Seite von Don Cherry die ersehnten Gestade New Yorks zu erreichen, wo er 1967 mit einer völlig freien Produktion debütierte. Die Spuren seiner Lehrzeit sind auf "The Third World" und "Fenix", den ersten der auch einzeln erhältlichen Platten für Bob Thieles Label "Flying Dutchman" unüberhörbar – coltraneske Rubato-Balladen, Aylersches Tremolo-Pathos, halbverdaute Folklorismen. "Under Fire" und "Bolivia" sind dagegen nach wie vor gültige Beispiele einer ausgelassenen, melodienseligen Fusion aus nordamerikanischem Jazz und südamerikanischem Lebensgefühl, an der Barbieris leidenschaftlich-hymnisches Spiel ebenso großen Anteil hat wie die glitzernden Klavierläufe von Lonnie Liston Smith. Ein letztes Album für Thiele, "Yesterdays", klingt nach halbherziger Vertragserfüllung und leidet sehr unter dem Fehlen Smiths. Das pièce de resistance der Box aber entstand 1971 beim Festival in Montreux: "EI Pampero". Ein Sextett aus Barbieri, Smith, dem treibenden E-Bassisten Chuck Rainey sowie drei Perkussionisten hält sich wechselseitig auf dem Energielevel eines vierzigminütigen Dauerorgasmus: Nie schuf Barbieri durch Hineinsummen in sein Instrument bei gleichzeitigem Überblasen größere Intensität als hier, vor einem begeistertem Publikum und am künstlerischen Zenit seiner Karriere. Leider hat es der französische Herausgeber der Musik – die im übrigen auch auf drei CDs gepaßt hätte – versäumt, über die ursprünglichen, französisch/ englischen Begleittexte hinaus einen kritischen Essay aus heutiger Sicht mitzuliefern.

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