Ausgabe
Juli/August 1998 STORY The Lapis Lazuli Band Tourplan Juli: 1. Paris Auswahldiskografie: · Lapis Lazuli Band (Enja, 1998), feat. Amina Claudine Myers · Heads and Tales (Enja, 1996), R.A. Alligatory Band · Cheer Up (hat Art, 1995), Azurety (hat Art, 1994), R.A, Han Bennink & Christy Doran · Don't Mow Your Lawn! (Enja, 1994), R.A. Alligatory Band · Big Band Record (Gramavision, 1994) · Blusiana II (Windham Hill Jazz, 1991), w/Dr. John · Dream Keeper (DIW, 1990) w/Charlie Haden
Autor: Michael Scheiner Fotos: Michael Scheiner |
Als Ray Anderson dieses
Frühjahr mit George Lewis, Craig Harris und Gary Valente
durch Europa reiste, wies er in seinen Ansagen immer
darauf hin, daß dieses Posaunenquartett "eine
komplett gleichberechtigte Angelegenheit" war. Denn
"Slideride" ist eine Band von Bandleadern und
Solisten, die seit Jahrzehnten auf der internationalen
Posaunistenszene konkurrieren. Und da kann es zu
Empfindlichkeiten kommen, wenn sich einer zu sehr
profiliert. Erst nach dieser diplomatischen Ouvertüre
setzten die vier ihre Posaunen zu powervoller, dunkler
Mehrstimmigkeit an. Das waren Eindrücke von der Tournee des Posaunenquartetts vor einigen Monaten. Bei seinem vor wenigen Tagen angelaufenen, erneuten Aufenthalt in der alten Welt hat der 45jährige Posaunist solche gewundenen Abgrenzungsund Erklärungsprobleme garantiert nicht zu bewältigen. Der schlaksige Amerikaner, der so laut und ansteckend lachen kann, stellt jetzt erstmals sein jüngstes Bandprojekt auf einer Europatournee vor. "The Lapis Lazuli Band" ist Andersons ureigene Geschichte. Benannt nach dem leuchtendblauen, undurchsichtigen Lasurstein ist die Namensgebung selbstverständlich ein programmatischer Wink mit dem Zaunpfahl: Blues. Auch wenn eine solche Festlegung bei Anderson nur begrenzten Aussagewert hat, nur annäherungsweise umreißt, was bei ihm musikalisch eine Rolle spielt, ist die Richtung klar. Für den gebürtigen Chicagoer, der in den explosiven 60ern mit Muddy Waters, Jefferson Airplane, aber auch starken Einflüssen der Motown-Szene, wie Sly and the Family Stone oder James Brown flügge geworden ist, war der Blues musikalisches Grundnahrungsmittel. "Jimi Hendrix war mein Gott!" Bereits als Jugendlicher posaunte er in Dixielandbands. Jay Jay Johnson und Vic Dickinson im Ohr und vor Augen, folgte die obligatorische High SchoolBand-Karriere (die im Jazz leider neben SportsmenLegenden viel zu wenig Beachtung finden). Er saugte auf, was Folksinger in ihren Liedern propagierten: Bürgerrechte für alle, Frieden und Gerechtigkeit. Geld sollte anders verteilt werden, eine andere Kultur das Ziel sein, der Posaunist beteiligte sich an Anti-VietnamDemonstrationen. Ein Baby-Boomer, für den Geld auch heute mehr von einer lebenserleichternden Notwendigkeit als einem Lebensinhalt per se hat. Künstlerisch bedeutet das für den Komponisten und Musiker, daß "ich in viele Richtungen gehe, nicht nur eine einzige Sache mache." Meist erlebt man den zweifachen Vater, der seit kurzem mit der Familie auf Long Island mit "Bäumen im Garten" lebt, in seiner Paraderolle als leidenschaftlicher Melodiker, dessen Instrument bei Improvisati-onen zu glühen beginnt. Vielseitigkeit, das Verschmelzen stilistischer Entwicklungen angefangen vom New Orleans Jazz mit seiner wundervollen tailgate-Spielweise, über die intellektuelle Expressivität des Bop bis zur Impulsivität des Free Jazz und personaler Kategorien zu einem neuen kraftund humorvollen Stil, gehört zu den hervorstechensten Merkmalen von Andersons Spiel. So wie auffällige Pludermützen und eine offene Weste zu seinen äußerlichen Markenzeichen gehören. Im besten Sinne verfügt er spielerisch über die ganze Tradition des Jazz, fühlt sich beim Groove afroamerikanischer Musik wie der Fisch im Wasser. Auch beim Schreiben taucht er meist zuerst in den Rhythmus ein, setzt von unten her Bass und Drumlinien und dann erst die anderen Stimmen darüber. Stoff hat er massig. Mehrere Bücher voll mit Ideen, fragmentarischen Melodielinien, Rhythmen und Vorstellungen für Arrangements, die er auf Touren, in Hotels oder zu Hause gesammelt hat. "Wenn du etwas im Kopf hörst, mußt du es sofort aufschreiben", lautet sein Arbeits-prinzip. Ist das aus irgendeinem Grund einmal unmöglich, sind plötzliche Einfälle genauso schnell wieder verschwunden, wie sie angeregt durch einen Duft, ein Bild, eine Imagination oder ein ganz banales Ereignis aufgetaucht sind. Deshalb hat er seine Kladden überall mit dabei. Man mag's ihm gar nicht glauben an-gesichts der Produktivität, wenn er sagt: "Wie das Schreiben bei mir eigentlich funktioniert, versuche ich selbst seit langem her-auszufinden". Am effektivsten funktioniere es, wenn er eine Deadline vor die Nase gesetzt bekommt. "Wenn du weißt, das muß zu einem unwiderruflichen Termin fertig sei, dann ist es bis dahin auch geschrieben", beschreibt er den Antrieb, den er manchmal selbst in Gang setzen muß, um die waagetypische Trägheit zu überlisten. Manchmal schult er die eigene Fantasie und Kreativität mit Aufgaben, etwas "zu musikalisieren, beispielsweise einen Stadtplan oder ein Fahrrad an einer Hauswand in musikalische Strukturen und Texturen zu übersetzen". Für die neue Band hat er alles selbst geschrieben. Aber "auf der Bühne sind alle gleich bedeutend", hier der Leader und dort die anderen würde nicht funktionieren. "Das blaueste Blau, das du dir vorstellen kannst", schwärmt Anderson von Lapis Lazuli. Neben den M-Base-Musikern Jerome Harris, Gitarre, und Lonnie Plaxico, Bass, sowie Schlagzeuger Tommy Campbell ist auch die renommierte Orgelspielerin und Sängerin Amina Claudine Myers mit von der Partie. Natürlich wird sie speziell herausgestellt, es wäre völlig unklug und ein verschenkter Marketingaspekt, es nicht zu tun. Die hervorgeho-bene Stellung verdankt sie ihrem legendären Ruf und nicht einer Co-Leadership. Dennoch hat Ray Anderson zu der Musikerin, mit der er in Charlie Haden's Liberation Orchestra und anderen Projekten seit Jahren immer wieder einmal zusammengespielt hat, eine besondere Verbindung. "Bei Amina bin ich wieder Schüler. Ich lerne von ihr..." schwärmt der attraktive Mittvierziger von der knapp zehn Jahre älteren Myers, die ihre Wurzeln in der schwarzen Kirchenmusiktradition hat. In ihrem eigenwilligen vom Gospel und Blues herkom-menden Spiel verbindet Claudine Myers Einflüsse der europäischen Romantik und des Stride mit dem radikalen Gestus der freien Improvisation. Virtuos nutzt sie Avantgardetechniken, reibt sich prächtig mit Andersons Bluesbetonung und singt in der neuen Band auch gemeinsam mit ihm. "Niemand ist besser als Amina", schwört der Bandleader, der auch schon mit einer anderen bedeutenden Organistin, der Münchnerin Barbara Dennerlein, gearbeitet und aufgenommen hat. Anderson will mit "Lapis Lazuli" den Gesang stärker als sonst herausstellen, wo er nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die meisten Texte hat Jackie Raven, seine Frau, geschrieben. Die Steptänzerin und Autorin, die Japanologie studiert hat, arbeitet in New York als Tanzlehrerin und trägt den Löwenanteil der Erziehung ihrer beider Kinder. Zwischen den häufigen Tourneen, die Ray Anderson nie über drei Wochen ausdehnt, läßt er immer ein bis zwei Wochen Pause. In dieser Zeit kümmert er sich intensiv um die Kinder und übernimmt die meiste Hausarbeit. Verantwortlichkeiten und Aufgaben einigermaßen zwischen den Eltern zu verteilen und dabei gleichberechtigt zu agieren, ist kaum möglich. Darüber ist der Posaunist auch ein wenig unglücklich: "Damit kämpfen und jonglieren wir immer." Viel Zeit verbringt der mehrfache Poll-Winner mit Aufnahmen und Auftritten in Europa. Häufig auch als Gastsolist von Bands, wie beispielsweise "Alte Leidenschaften" und "U3 Klang". Hier hat er auch mit dem Münchner Enja-Label von Matthias Winckelmann einen Verlag, der ihn seit den funky "Slickaphonics"-Zeiten fördert und seine Arbeit dokumentiert. Seine Zusammenarbeit mit Percussionist Han Bennink und Christy Doran, einem der herausragensten europäischen E-Gitarristen, beides ausgeprägte Individualisten, ist auf dem elitären Schweizer HatHut-Label veröffentlicht. Von einem der großen Verlage, Sony, Emi oder BMG hat er nie einen Vertrag angeboten bekommen. "In den USA dreht sich fast alles um so neokonservatives Zeug und Musiker, die das spielen", weil sich das leichter vermarkten läßt. Als Posaunist, der noch dazu ganz verschiedene Projekte am Laufen hat und sich nicht auf einen Stil festlegen läßt, sieht Anderson keine Chance, an einen sogenannten Majordeal zu kommen. Wenn dennoch ein solches Label in ihn investieren wollte: "I would take it!", keine Frage. Aber: "Die großen Plattenverlage denken nicht an Kunst, sie vermarkten Records." Für den mit Witz, Humor und einer tiefen Emphase spielenden Posaunen-virtuosen kein Grund seinen Optimismus zu verlieren: "Ich mag das Leben mit so vielen verschiedenen Dingen. Und bin glücklich, daß ich bisher immer das machen konnte, was auch Spaß macht, und daß ich nicht unterrichten mußte." |
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