Ausgabe April
1998 NEUE CD
John Coltrane
The Complete 1961 Village
Vanguard Recordings
Impulse! IMPD 4-232 (4 Cds)
Autor: Marcus A. Woelfle
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Denkmal
einer Begegnung "Recorded
live At The Village Vanguard" - das kommt einem
Gütesiegel für Live-Jazz gleich. Wie beim
"Sandelholz aus Mysore" oder bei der
"Violine aus Cremona" appelliert allein schon
die Herkunftsbezeichnung an eine Art Ur-Vertrauen des
Liebhabers. Wer wissen will, warum dies so ist, findet in
diesen, nun sorgfältig editierten Aufnahmen aus Max
Gordons Jazzclub im New Yorker Künstlerviertel Greenwich
Village, vielleicht eine Antwort. Alle Aufnahmen vom 1.,
2., 3. und 5.November 1961, die früher auf den Alben
"Live At The Village Vanguard" und
"Impressions" sowie den posthumen
Zusammenstellungen "The Other Village Vanguard
Tapes", "Tranes Modes" und
"From The Original Master Tapes" verstreut
waren, liegen nun endlich, um die drei bislang
unveröffentlichten Titel ergänzt, auf den vier CDs
einer sorgfältigen und sogar preisgünstige Edition vor:
"COLTRANE: The Complete 1961 Village Vanguard
Recordings". Man beachte, wie die Rezeption durch
diese Titelgebung gelenkt wird, die unauffällig ein
wenig in die Irre führt. Denn gerade nicht die
Fokussierung auf ein monomanisches Saxophongenie machen
die eigentliche Bedeutung dieser Aufnahmen aus; sind sind
vielmehr das wichtigste Dokument der Partnerschaft mit
Eric Dolphy, der eigentlich mit auf den Titel sollte,
obgleich er nominell nur Sideman war. Denn anders als die
Zusammenarbeit mit Johnny Hodges, die Coltrane noch als
Anfänger ausweist oder die Union mit Pharoah Sanders,
die letzlich ein Kräftemessen zwischen Lehrer und
Schüler darstellt, handelt es sich hier um eine
Begegnung mit einem gleichrangigen, stilistisch
andersgearteten, aber nicht weniger innovativen und
eigenständigen Saxophonisten. Die Begegnung mit Dolphy
ist auch nicht vergleichbar mit jenen Battles, die
Coltrane in den 50ern mit Größen wie Sonny Rollins,
Johnny Griffin oder Bobby Jaspar ausfocht. Es waren
folgenlose diskographische Episoden, bei denen Coltrane
und seine Kollegen noch im Hardbop-Idiom agierten.
Daß Dolphy jetzt als gleichberechtigter Konterpart
wahrgenommen werden kann, ist ein großer Verdienst
dieser Edition, gaben doch die zu Coltranes Lebzeiten
veröffentlichten Alben ein bis heute prägendes,
einseitiges Hörbild der Auftritte im Village Vanguard
wieder. Gerade von Schlüsselwerken wie
"Chasin The Trane" oder
"Impressions", die öfters mitgeschnitten
worden waren, waren seinerzeit genau jene takes zur
Veröffentlichung bestimmt worden, bei den Dolphy
buchstäblich nur einen Ton spielt - im Schlußakkord.
Das dolphylose,viertelstündige "Chasin The
Trane" ist denn auch der vielleicht der
beeindruckendste Blues-Marathon eines Tenoristen der 60er
Jahre - ein Lehrbuchbeispiel für den existentielle Drang
im Spiel eines bis zur Erschöpfung rückhaltlos alle
Ideen auschöpfenden Improvisators. Auch jene Titel, in
denen Dolphy agiert, wurden offensichtlich aus der
Coltrane-Perspektive ausgewählt.
Vom Gesichtspunkt des jungen Labels Impulse, das durch
Coltrane erst berühmt wurde, ist dies durchaus
nachzuvollziehen. Da Coltrane unbedingt mit dem
berühmten Tonmeister Rudy van Gelder zusammenarbeiten
wollte, hatte er sich mit seinem früheren Label Atlantic
überworfen, mit dem er drei Jahre zusammengearbeitet
hatte, in denen er Kult- und Leitfigur der jüngeren
Generation geworden war. Die Live-Aufnahmen im Village
Vanguard waren die ersten, die für Impulse entstanden,
nachdem Coltrane im Mai seine erste Einspielung für
Atlantic eingespielt hatte: auch hier hatte Dolphy
mitgewirkt, allerdings nur unter Pseudonym - was auch
nicht dazu angetan war, seine Bedeutung für Coltrane und
die damalige Jazz-Avantgarde herauszustellen.
Bei Atlantic war Coltranes Konzeption des modalen Jazz
gereift, er hatte seine Vorliebe für exotische Skalen
und schier endlos wirkenden Improvisationen entdeckt und
schließlich das im modernen Jazz nur vereinzelt
verwendete Sopransaxophon wiederbelebt. All dies
erscheint in den Live-Aufnahmen für Impulse in
intensivierter Gestalt. Der Sound ist nicht nur
aufgerauht, alle traditionellen Vorstellungen
saxophonistischem Schönklang (Coltrane konnte ihnen,
auch später noch in seinen lyrischen Balladen-Aufnahmen
durchaus entsprechen) sind völlig über dem Haufen
geworden. Coltrane schreit, rast, tobt, bebt mit einer
selten zuvor so stark entwickelten Eruptivkraft auf dem
Saxophon; der Klang ist beissend scharf , trübt sich
oder quäkt. Die sich überschlagenden Stimmen von
Gospelpredigern, die Intensität von
Schlangenbeschwörern (man höre den inzwischen stärker
orientalisierende Timbre seines Soprans) spiegelt sich in
seinem Sound. Die sich überstürzenden Klangkaskaden
seiner freien Phase kündigen sich an. Zugleich ist
Coltranes Konzeption in vielerlei Hinsicht (man denke an
die einst ausgeklügelte Harmonik) einfacher als Jahre
zuvor oder die Dolphys. Der Pianist MCCoy Tyner schichtet
Akkorde aus Quarten und Quinten, zu denen man nahezu
alles spielen kann. Aber Freiheit macht Angst. Den
Zeitgenossen wird bang, er fängt an alte Freunde seiner
Musik zu verwirren, zu verlieren.
Aus der Retrospektive wirken die Beiträge Dolphys aber
als nicht weniger verstörend. (Und das heute noch: Der
Verfasser kennt Kollegen, denen die Chorusse Dolphys
bislang eher als störende Espisoden in Kauf nahmen.)
Sein Spiel zeugt kaum weniger von Besessenheit und
Getriebenheit als das seines berühmteren Kollegen. Als
prinzipiell frei chromatisch Denkender beschränkt er
sich im modalen Gefilde keineswegs auf das von der
gewählten Skala zur Verfügung gestellte Tonmaterial. In
rasenden Läufen voller unerwarteter Intervallsprünge,
Wendungen und Atempausen hüpft und windet er sich
scheinbar atonal durch harmonische Labyrinthe, die um ein
Vielfaches komplexer sind als ihr statischer Hintergrund.
Dabei gackert, kreischt und blökt der qurilige Mann, der
gern zum Zwitschern der Vögel übte, auf Saxophon und
Baßklarinette wie eine aufgescheuchte Menagerie. Sich
gegenseitig zu Höchstleistungen anstachelnd werden
Coltrane und Dolphy von Elvin Jones und bisweilen sogar
von zwei Bassisten - Reggie Workman und Jimmy Garrison
-vor sich hergetrieben. In Ahmed Abdul-Malik stand ihnen
ein dritter Bassist als Oud-Spieler für seine
Komposition "India" zur Seite. Es ist
rätselhaft, wieso der um eine Annäherung an die Musik
des Ostens bemühte Coltrane, Abdul-Malik, einen der
wenigen damaligen Spezialisten auf diesem Gebiet, nicht
auch solistisch, sondern ihn nur im Sinne einer indischen
Tambura einsetzte. (Auch der Jazz-Veteran Garvin Bushell,
der einst mit Bessie Smith(!) Aufnahmen machte, wird nur
wegen des exotischen Kolorits seiner Oboe verwendet.)
Doch möglicherweise hat er es ja getan. Über das
Programm der Village-Vanguard-Konzerte sind wir
schlechter unterrichtet, als anzunehmen wäre. Es wurden
leider nämlich nur 22 Aufnahmen von jenen neun
Kompositionen mitgeschnitten, die man zu veröffentlichen
gedachte. Das Bewußtsein, einem historisch bedeutsamen
Augenblick beizuwohnen, von dem es jeden Ton festzuhalten
gilt, war einfach noch unterentwickelt. Konzerte auf
Höchstniveau waren Alltag. (Auch beim wegweisenden
1961er Konzert des Bill-Evans-Trios im Village Vanguard
schnitt man nur mit, was für die Veröffentlichung
gedacht war. Die Hörer sind wenige und klatschen kaum.
Im Herbst 1961 gaben unter anderem Ornette Coleman, Cecil
Taylor, Lennie Tristano, Lee Konitz und Sonny Rollins in
nächster Nachbarschaft Konzerte.) Immerhin haben wir
Gelegenheit, bislang unbekannte takes von
"India", "Miles Mode" und
"Naima" mit den anderern Versionen zu
vergleichen. "Naima", das aus rechtlichen
Gründen melodisch verändert wurde - es mußte anders
klingen als die Atlantic-Aufnahme - wird auf z.B. der
Trouvaille von Dolphy mit einer ansprechenden Zweitstimme
unterlegt, die dem bekannten take fehlt.
Mit ihrer kompomißlos radikalen Expressivität waren
Coltrane und Dolphy für Publikums- und
Kritiker-Geschmack zu weit gegangen. Schon 1962 gingen
die beiden Dioskuren auseinander.
In ihrem Erscheinungsbild ist die Edition eine
vorbildliche Alternative zu den derzeit grassierenden
verbraucherunfreundlichen CD-Boxen. Die Disks stecken in
stabilen Papphüllen, die gestalterisch an die
legendären Impulse-Klappcover-Alben angelehnt sind. So
platzsparend, billig und ansprechend sollten auch die
Einzel-CDs verpackt werden.
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