Audience Development (1) – Einleitung

audience-614x409Vor ungefähr drei Jahren veröffentlichte der amerikanische Pianist Kurt Ellenberger in der Huffington Post einen Artikel mit dem Titel „The Audience and the Educator – A Study in Blue“. Darin beklagte er die reflexartige Forderung nach mehr „Jazz Education“, die erwiesenermaßen schon seit 40 Jahren nur mehr Jazzmusiker, nicht aber mehr geneigtes Jazzpublikum hervorbringe.
Patrick Jarenwattananon vom „Blog Supreme“ des NPR stellte daraufhin die Frage, warum sich keine Korrelation zwischen „Jazz Education“ und Publikumszuwachs ergeben habe. Seine Antwortsuche führt ihn wiederum zu Ellenberger, welcher der Jazzkultur und -ausbildung (wohlgemerkt nicht aber der Musik!) vorwirft, im „goldenen Zeitalter“ der 1950er und 60er zu verharren und jegliche „Coolness“, jeglichen Bezug zur aktuellen Kultur eingebüßt zu haben.

Versuche, dem Jazz und seiner Präsentation durch Rekontextualisierung neues Leben einzuhauchen, hat es seither zahlreich gegeben: der afroamerikanische Trompeter Nicholas Payton schlug vor, Jazz in „Black American Music (BAM)“ umzubenennen; der Pianist Robert Glasper setzte sich an die Spitze einer Bewegung jüngerer amerikanischer Jazzmusiker, die ihre (Jazz-)Musik mit HipHop-Elementen verbinden und/ oder – wie der Schlagzeuger Chris Dave – in beiden Welten gleichermaßen zuhause sind.

Auch hierzulande gibt es zahllose Beispiele, die den Jazz in neue Kontexte einbetten und dadurch neue Publikumsschichten ansprechen. Innermusikalisch geschieht dieses „über den Tellerrand schauen“ ohnehin seit jeher – ganz egal, ob deutsche Volks-, amerikanische Countrymusik oder doch gleich Heavy Metal Pate stehen. Aber auch in der Musikpräsentation hat sich einiges verändert. Jazz läuft längst nicht mehr nur in verrauchten Kellern, sondern auch in klassischen Konzertsälen, Museen, vor stillgelegten Eisenwerken, auf Bauernhöfen, im Schiffsbauch oder auf dem Schrottplatz.

Alles gut also?

Leider nicht, denn der Jazz hat auch in Deutschland ein Zuschauerproblem. Etliche Liveclubs mussten in den vergangenen Jahren schließen, ihr Programm reduzieren oder abändern; viele Festivals können es sich nicht leisten (oder trauen sich nicht?), ein „mutiges“ Jazzprogramm anzubieten und erhoffen sich stattdessen durch die Wahl von Headlinern aus dem Pop-, Funk- oder Soulmusikbereich stärkeren Zuschauerzuspruch. Dadurch werden jedoch sowohl die Grenzen dessen, was man mit „Jazz“ bezeichnet, zunehmend verwischt, als auch die Hörerwartungen des Publikums nachhaltig verändert. Es schleicht sich die Tendenz ein, aktuellen Jazz auch im Livekontext etwas verschämt unter ferner liefen zu präsentieren – in Fernsehen und Hörfunk fristet der Jazz dieses Stiefkind-Dasein bereits seit vielen Jahren.
Diese zweifelnd vorsichtige, das Publikum lieber unter- als überfordernde Haltung erweist jeglichen Bemühungen um „Audience Development“ einen Bärendienst. Wie soll ein Publikum zum Jazz finden, wenn seine Veranstalter sich nicht trauen, ihn zu zeigen? Wann und wo soll das Publikum sonst mit Jazz in Berührung kommen, wenn die (in Deutschland marginale) Vermittlung in der Schulzeit nachweislich nicht ausreicht?

Kurt Ellenberger hat eine lesenswerte Replik auf den NPR-Blog verfasst, deren fatalistisches Fazit „it can’t be done“ lautet.
Da ich vorhabe, optimistisch zu bleiben, werde ich mich in den kommenden Wochen und Monaten dennoch mit dem wichtigen Thema „Audience Development“ auseinandersetzen, Probleme aufzeigen und Lösungsansätze sammeln, in der Hoffnung, dass die Musik, die ich liebe, auch weiterhin ihr Publikum finden und binden kann.
Ich freue mich auf zahlreiche Mitleserschaft und weiterführende Diskussionen in den Kommentaren.

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8 Kommentare

  1. Lieber Herr Schaefer,

    es freut mich sehr, dass Sie sich entschlossen haben, das Thema „Audience Development“ in Ihrem Blog aufzugreifen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann geht es um zwei einfache Fragen. Erstens: Warum kommen nur so wenige Besucher zu Jazz-Konzerten? Zweitens: Warum spielt Jazz in unserer Gesellschaft keine nennenswerte Rolle? Als initiator und Kurator einer Reihe von Jazz-Konzerten im Rhein-Main-Gebiet (Rüsselsheim, http://www.jazzfabrik.de) bin sehr gespannt, zu welchen Schlüssen Sie kommen.

    Besonders neugierig bin ich darauf, wie sich Ihre Antworten zu den Begriffen „Relevanz“ und „Diskurs“ verhalten. Nach meiner Wahrnehmung gibt es hier zu Lande im Jazz bei allen Beteiligten – Musiker, Veranstalter, Publikum – einen mangelhaft ausgeprägten Bezug zu Kunst, Kommunikation und Gesellschaft. Nirgends sonst herrscht gegenüber den Gegebenheiten der Zeit solch virtuoses Schweigen. Hat ein bildender Künstler seine Arbeit vollbracht, hat ein Schriftsteller sein Buch geschrieben, dann ist er postwendend bei den sozialen Zuständen um ihn herum. Maler und Literaten, auch Vertreter anderer Musikrichtungen bestimmen den Zustand der kreativen Intelligenz in unserem Land, nicht jedoch die Jazzer oder ihre Klientel. So kommt es, dass in den meisten Fällen Musik über Musik erklingt, dass sich Besucher ihre Konzertbesuche erzählen, und dass sich Veranstalter toll finden, weil sie dem Not leidenden Jazz wieder einmal ein paar Brosamen zugeworfen haben.

    Ich wünsche Ihnen und dem Jazz eine intensive Diskussion!

    Stephan A. Dudek

    1. Lieber Herr Dudek,

      vielen Dank für Ihren Beitrag!

      Die von Ihnen angesprochenen Fragen spielen auf jeden Fall eine zentrale Rolle. Der Begriff „Relevanz“ hat für mich höheres Gewicht als der Begriff „Diskurs“, da letzterer in meinen Augen auch entwicklungshemmend wirken kann, wenn der theoretische Anteil und die an die Musik geknüpften Erwartungen zu groß werden. Ihre pessimistische Einschätzung des künstlerischen Willens und der Aussagekraft teile ich nicht, freue mich aber über die klar bezogene Position.

      Auf eine Fortführung der Diskussion!

      Beste Grüße,
      Benjamin Schaefer

  2. Lieber Benjamin,

    man sollte vielleicht aber den Fokus nicht allein auf die Liveclubs legen. Der Bereich der schulischen Jazzveranstaltungen hat meines Erachtens seit Jahren zugenommen. Herr Ortmann müsste das eigentlich genauer wissen. Vielleicht mit dem Ergebnis, dass immer mehr Zuhörer selbst Musiker sind. Die Teilnehmerzahlen bei „Jugend jazzt“ sind auch steigend, wenn mich nicht alles täuscht. Nur sind das nicht automatisch neue Clubbesucher (das geht ja schon von der Zeit her kaum).

    Gibt es denn eine Evaluation über die Effekte des Spielstättenprogrammpreises und seine Auswirkungen auf Bindung und Neugewinnung von Publikum?

  3. @Martin: Eine Evaluation sollte schon nach dem ersten Spielstättenprogrammpreis durchgeführt werden. Ob oder ob nicht, weiß ich nicht, der Kommunikationswille der Initiative Musik ist nicht sonderlich groß, wenn es um diese Fragen geht. In dem Gesamtetat damals waren dafür jedenfalls 25.000 Euro vorgesehen (nach einer Aufgliederung der Summe, die ich von der Initiative bekommen habe, ohne diese Aufgliederung aber verwenden zu dürfen).

    @Benjamin: Du musst achtgeben, dass du nicht Dinge durcheinander bringst. Dass Liveclubs schließen müssen, hat weniger mit ihrer programmatischen Ausrichtung zu tun. Auch kenne ich nicht so viele Jazzclubs, die in Richtung Pop und/oder Rock abgedriftet sind, weil in ihrem eigentlichen Beritt das Publikum fernbleibt (mal abgesehen von den obligatorischen Partys am Wochenende). Es stellt sich vielmehr die Frage, ob nicht auch die vielen Festivals Schuld an der Situation sind, dass den Clubs das Publikum wegbricht; siehe Enjoy Jazz im Rhein-Neckar-Raum. Und zuguterletzt: Das, was Payton und Glasper heute machen und sagen, ist ja nicht neu; das wurde immer wieder versucht, siehe „Acid Jazz“ vor 20, 25 Jahren oder die Diskussion darüber, dass Jazzclubs nicht mehr Jazzclubs heißen dürfen, sondern Spielstätten genannt werden müssen. Lies vielleicht den „Club-Check“ durch, den Kollege Reinhard Köchl und ich vor (ich glaube) zwei Jahren in Jazz thing gemacht haben. Darin wird zwar einiges nur angerissen, ohne in die Tiefe gehen zu können. Doch zeigt dieser Check auch die Vielfalt an Möglichkeiten, wie ein Jazzclub heutzutage organisiert werden kann (und legt auch ein „Südwest-Gefälle“ offen).

    Gruß
    Martin

    1. Lieber Martin,

      danke für Deinen Beitrag!

      Ich bemühe mich, nichts durcheinander zu bringen und hoffe, es gelingt. Zur Festivalitis ist auf jeden Fall ein Beitrag geplant. Aber Jazzclubs, die in Richtung Pop und/oder Rock abdriften – klar gibt es die: nicht absolut und ausschließlich, wohl aber schleichend (schau Dir das aktuelle Stadtgarten-Programm an…). Und der umgekehrte Fall, dass Pop-/ Rockläden und/oder allgemeine Kulturzentren auch Jazz im Programm haben, scheint mir ebenfalls seltener geworden zu sein. Ganz zu schweigen von der Masse an Musik, bei der nicht klar ist, in welche Schublade sie nun gehört…

      Rekontextualisierung ist natürlich nicht neu. Ich hätte klarer ausdrücken sollen, dass es sich bei den angeführten Beispielen nur um die jüngsten Bestrebungen handelt.

      Vielen Dank für den Hinweis auf Euren „Club-Check“. Leider konnte ich ihn im Netz nicht finden – magst Du ihn mir schicken?

      Liebe Grüße,
      Benjamin

  4. Hallo,
    ich hatte vor einiger Zeit eine Statistik gelesen, wonach die Zahlen der Jazzstudierenden in den letzten Jahren konstant steigt. Ich glaube es wäre gut bei den Studierenden anzusetzen. An jedem Studenten hängt auch eine Familie – schleppt diese Familien mit in die Clubs! Wahrscheinlich wissen die oft nicht, was für tolle Musik einem dort begegnen kann – und es wird definitv ein schönerer Abend als vor dem Fernseher hängen.
    Ein Aktionsplan „Studierende“ von der UDJ wäre gut.

  5. Frag‘ doch mal ’nen Klempner, ob er dir auf Spendenbasis ’n neuen Wasserhahn einbaut. Arbeitet ein Schuster für lau? Nee, natürlich nicht. — Die Misere fängt doch beim *DEM* deutschen Jazzzentralorgan, dem Jazzpodium an: Keiner dort wird für seine Arbeit bezahlt, und alle nehmen es klaglos hin.

    Qualität hat ihren Preis, und was nix kost, ist nix wert, richtig?

    Deshalb habe ich vor ca. 15 Jahren zum letzten Mal für lau gespielt. Jeder der das macht, ist ein Kameradenschwein, weil er die Preise drückt. Ganz einfach. Und im übrigen: Es lebe das Individuum! Denn das ist es, was Jazz ausmacht: Ein persönlicher Klang, ein Leben … OK? Ich bin da ganz bei Charlie Parker: „Wenn du es nicht lebst, kommt es nicht aus deinem Horn.“ (Aus dem Gedächtnis zitiert).

    Und wenn ich nichts zu tun habe, restauriere ich eben weiter meine alten LPs und höre gute Musik. Der nächste (bezahlte!) Gig kommt bestimmt.

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